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1. Das Van Miert Papier


1.1. Einleitung

Wer sich für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk interessiert, konnte in den letzten Monaten eine bizarre Debatte verfolgen, bei der mit starken Worten nicht gespart wurde. Die EU-Kommission versuche, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Europa zu zerstören, so der hessische DGB-Chef Hooge[1]. "Wir werden uns gegen derartige Kompetenzanmaßungen aus Brüssel mit allen Mitteln wehren!", so der Bayerische Ministerpräsident Stoiber[2]. Was war geschehen? Die dem niederländischen EU-Kommissar Karel van Miert unterstellte Generaldirektion IV hatte ein "Diskussionspapier[3]" entworfen, das als "Van Miert Papier" vor allem in Deutschland Wellen schlug.

1.2. Grundthesen

In diesem Papier interpretiert die GD IV den EU-Vertrag und das den öffentlich-rechtlichen Rundfunk betreffende Protokoll zum Vertrag von Amsterdam und zieht daraus den Rückschluß, daß nicht jede mögliche Betätigung und Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit Artikel 90 II, 92 und 93 EGV vereinbar sei. Sie stellt mehrere mögliche Modelle für die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vor, die dem EU-Vertrag entsprechen würden. Zwischen diesen Modellen hätten die Mitgliedsstaaten ein Wahlrecht:
1. Einzelfinanzierung: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird allein aus Gebühren finanziert. Werbung ist ihm untersagt. Staatlich finanziert werden jedoch nur die Sendungen, die dem öffentlichen Auftrag entsprechen. Darüber hinausgehende Sendungen könnten nur nicht gebührenfinanzierte Tochterfirmen der Rundfunkanstalten senden. Der öffentliche Auftrag wird von dem jeweiligen Mitgliedstaat definiert, er kann auch jede Art von Sendung umfassen, da die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nach diesem Modell nicht mit den privaten um Werbeeinnahmen konkurrieren. In der Praxis würde dieses Modell die Fortsetzung des bisherigen öffentlich-rechtlichen Rundfunks bedeuten, allerdings ohne Werbung.
2. Duale Finanzierung: Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten sind werbeberechtigt. Allerdings müssen sie eine getrennte Buchführung betreiben: Sendungen, die den öffentlichen Auftrag erfüllen, sind allein durch Gebühren, die übrigen Sendungen allein durch Werbung zu finanzieren. Werbeeinnahmen im Zusammenhang mit Sendungen im öffentlichen Auftrag werden auf die Gebührenzuweisung angerechnet. Der öffentliche Auftrag wird zwar auch hier vom jeweiligen Mitgliedstaat festgelegt, die Kommission überprüft aber, ob er dem Gemeinschaftsrecht entspricht. Die Kommission möchte damit verhindern, daß die gesamte Bandbreite des Fernsehens zum öffentlichen Auftrag erklärt wird, da nach diesem Modell private und öffentliche Rundfunkanstalten um Werbeeinahmen konkurrieren. Nach Ansicht der Kommission sollte sich der öffentliche Auftrag auf Informations-, Bildungs-, Kultur- und Regionalprogramme beschränken. Sport- und Unterhaltungssendungen hingegen sollen bei diesem Modell nicht zum Öffentlichen Auftrag gehören (dies soll jedoch nicht für wichtige Sportereignisse im Sinne der "Fernsehen ohne Grenzen"-Richtlinie[4] gelten). Dies würde in der Praxis auf eine Kontrolle des durch den jeweiligen Mitgliedstaat festgelegten öffentlichen Auftrags durch die Kommission hinauslaufen.
3. Ausschreibungsmodell: Öffentlich-rechtliche und private Veranstalter werden gleichgestellt, die gebührenfinanzierten Sendungen im öffentlichen Auftrag werden ausgeschrieben. Das wäre wohl in der Praxis die faktische Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Nach Ansicht der GD IV verstoßen damit fast alle in den Mitgliedsstaaten praktizierten Finanzierungsmodelle für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gegen das Gemeinschaftsrecht. Als rechtskonform wären wohl allein das britische Modell (das Variante 1 entspricht) und das portugiesische (Variante 2) anzusehen.
Auch die deutsche Gebührenfinanzierung wäre nach dieser Ansicht nicht haltbar. Zwar wäre die deutsche Regierung in der Lage, den öffentlichen Auftrag so wie bisher als Grundversorgungsauftrag zu definieren und damit über Variante 2 den Status Quo beizubehalten, allerdings widerspricht eine derart weitgehende Definition der Interpretation des Gemeinschaftsrechts durch die Kommission, mit einem Einschreiten müßte gerechnet werden. Doch auch ohne ein Einschreiten der Kommission wäre die bisherige Mischfinanzierung aus Gebühren und Werbung nur beschränkt mit Variante 2 vereinbar: Wenn das gesamte derzeitige Aktionsfeld von ARD und ZDF öffentlicher Auftrag bliebe, dann müßte auf Werbung verzichtet werden. Die Alternative wäre, bestimmte Sendungen vom Grundversorgungsauftrag auszunehmen. Diese Sendungen wären dann allerdings ausschließlich aus Werbung zu finanzieren. Ein Beispiel: Wenn Talkshows nicht mehr zum Grundversorgungsauftrag zählen würden, dann dürfte die ARD "Jürgen Fliege" zwar durch Werbesendungen unterbrechen, aber zur Finanzierung dieser Sendung keine Gebühren mehr verwenden. In der Praxis würde die Umsetzung der im "Van Miert Papier" geäußerten Ansichten daher auch in Deutschland zu einer Reduzierung des öffentlichen Programmauftrags führen, sei es durch Eingreifen der Kommission oder durch betriebswirtschaftliche Überlegungen der Sender.

1.3. Rechtliche Bedeutung des Papiers

Bedeutet dieses Papier also das Ende von ARD und ZDF in der heute bekannten Form? Mitnichten.
Allen Aufgeregtheiten in Politik und Presse zum Trotz sollte man sich zunächst vor Augen halten, welche rechtliche Verbindlichkeit das Papier besitzt: Nämlich keine. Wie die Kommission inzwischen in einer Presseerklärung[5] klargestellt hat, handelt es nicht um eine offizielle Mitteilung der Kommission und schon gar nicht um einen Richtlinienvorschlag, sondern um ein Arbeitspapier für die Diskussion um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das Papier ist inzwischen auch in anderen Generaldirektionen auf Widerspruch gestoßen und gilt daher noch nicht einmal als Stellungnahme der Kommission, sondern nur als Arbeitsergebnis der GD IV[6]. Van Miert selbst hat ebenfalls klargestellt, daß es sich nur um ein "unverbindliches Diskussionspapier" handelt[7].
Das Papier ist also nur ein unverbindliches Rechtsgutachten, das die Ansicht der GD IV wiedergibt. Dennoch ist es eine interessante Frage, ob die Kommission tatsächlich in der Lage wäre, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Europa und seine Finanzierung derart umfassend zu reglementieren.


[1] FK 41-42/98, 6
[2] Rede am 14. Oktober 1998 bei den Medientagen München, http://www.bayern.de/Politik/Reden/980928.html
[3] FK 40/98, 39
[4] Richtlinie 97/36/EG
[5] FK 41-42/98, 45
[6] Presseerklärung der Kommission, FK 41-42/98, 46
[7] FK 41-42/98, 6


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